Wer der Generation Ü30 oder gar Ü40 angehört, Punkrock und Artverwandtes hört, der ist mit Schallplattenläden aufgewachsen, kann mit Sicherheit irgendeine prägende Geschichte zu seiner musikalischen Sozialisation erzählen, die mit dem örtlichen oder in der nächsten (Groß-)Stadt angesiedelten „Tonträgerfachhandel“ zu tun hat.
Ja, Plattenläden sind wichtig, sie sind ein Ort des Austauschs, ein – wir erinnern uns an „High Fidelity“, Buch wie Film – soziales Biotop, das Freaks Schutz bietet, das Undergroundkultur fördert, das ein Gegengewicht darstellt zum gesellschaftlichen Mainstream.
Natürlich dienen diese Läden auch dem kommerzielle Interesse ihrer Inhaber, aber aus rein finanziellen Gründen betreibt sicher niemand einen Punk- und Independent- Plattenladen. In Deutschland ist seit vielen Jahren schon ein ständiger Rückgang der Zahl solcher Plattenläden zu verzeichnen, Amazon, iTunes, MediaMarkt und Saturn haben ihren Teil dazu beigetragen, aber auch veränderte Konsumgewohnheiten und auch eine „Geiz ist geil“-Mentalität seitens der Käufer.
Die Gründe sind vielfältig und nicht anders als in den USA, wo seit dem Jahr 2000 die unglaubliche Zahl von 3.000(!) Plattenläden schließen mussten. Wer in den Neunzigern in die USA reiste, berichtete hinterher immer mit großer Begeisterung von all den coolen Plattenläden dort, doch in den letzten Jahren dann immer öfter Berichte von Reisenden der Art von „Tja, XY gibt’s auch nicht mehr“.
Klar, in den großen Städten werden sich Läden wie Bleecker Bob in NYC oder Amoeba in San Francisco mit etwas Glück noch ein paar Jahre halten. Doch in den kleineren Provinzstädten, wo solche Läden oft den einzigen „Anker“ für Gegenkultur darstellten? Schlechte Aussichten, und was einmal weg ist, kommt nicht mehr wieder.
Zu genau dieser Thematik drehte Brendan Toller seinen Dokumentarfilm „I Need That Record“, in dem er einen Überblick zu geben versucht über die Strukturen und Mechanismen der US-Tonträgerindustrie in den letzten 40, 50 Jahren und inwiefern das Geschäftsgebaren der Majors (besonders dramatisch: deren Hochpreispolitik für CDs) einerseits den Massenverkaufsstellen wie Walmart (stellt euch vor, die CSU würde Supermärkte betreiben und die dort verkaufbaren CDs nach ihren Moral- und Kulturvorstellungen zensieren ...) nützte und andererseits den unabhängigen, kleinen Plattenläden schadete.
Toller interviewte für seinen Film sowohl Plattenladenbetreiber (darunter zwei, die er bei der Schließung ihrs Ladens begleitete) wie -kunden, er sprach mit Labelmachern wie Ian MacKaye oder dem Boss von Bloodshot Records, mit Thurston Moore, Glenn Branca, Lenny Kaye, Legs McNeil und zig anderen, besuchte ein Vinylpresswerk in Nashville und zeichnet aus und mit all diesen Gesprächen ein zwiespältiges Bild: Einerseits kann man sich nicht vorstellen, dass die Plattenladenkultur einfach so aussterben kann, andererseits verteufelt er auch nicht Entwicklungen wie iTunes, iPad und andere Online-Phänomene.
Ich nehme mal an, seit den Dreharbeiten in den Jahren 2007/2008 und der Fertigstellung 2009 sind noch hunderte weitere US-Plattenläden vor die Hunde gegangen, das mit dem „Survival“ im Untertitel ist also fraglich, und dennoch ist der Film motivierend: Ich überlege seit gestern abend ernsthaft, ob man nicht doch irgendwie einen Plattenladen aufmachen sollte in Solingen-Ohligs ...
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #91 August/September 2010 und Joachim Hiller