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EIN ANDALUSISCHER HUND / DAS GOLDENE ZEITALTER

„Ein Balkon, Nacht. Ein Mann schärft sein Rasiermesser in der Nähe des Balkons. Der Mann betrachtet durch die Fensterscheiben den Himmel und sieht... Eine leichte Wolke, die sich auf den Vollmond zubewegt.

Dann der Kopf eines jungen Mädchens mit weit aufgerissenen Augen. Dem einen Auge nähert sich die Klinge des Rasiermessers. Die Klinge des Rasiermessers zerschneidet das Auge des jungen Mädchens.“ Das ist die Beschreibung der ersten Szene aus dem Drehbuch des 15-minütigen Kurzfilms UN CHIEN ANDALOU von Luis Buñuel und Salvador Dalí aus dem Jahr 1929.

Möglicherweise die einflussreichsten 15 Minuten der Popkultur, die die erste Splatterszene der Filmgeschichte enthalten (das Auge war allerdings nur das einer toten Kuh ...), die deutlich die Ästhetik von David Lynchs ERASERHEAD geprägt haben und deren Einfluss sich später auch in dem Pixies-Song „Debaser“ finden lässt. Verständlicher wird dieser poetische wie grausame, nur mit Musik unterlegte Stummfilm dadurch nicht, dessen Basis zwei Träume von Buñuel und Dalí waren – und die sich bekanntlich ja nur schwer erklären lassen.

Für Buñuel und Dalí sollte UN CHIEN ANDALOU vor allem ein provokatorischer Schrei sein, dessen vieldeutige Symbolismen und Tabubrüche dazu dienten, den Geist der surrealistischen Revolution auch in die Filmkunst zu tragen und das Vertrauen in die rationale Logik zu erschüttern.

Ein erfolgreiches Experiment, denn beide machten nach diesem Frontalangriff auf das bürgerliche Kunstpublikum und gesellschaftliche Tabus, voller sexueller wie religiöser Anspielungen, Karriere als Filmemacher und Künstler.

Vor allem Buñuel nahm in seinen späteren Filmen weiterhin provokant das Bürgertum und die Kirche aufs Korn, während Dalís Einfluss auf die Filmgeschichte leider eher indirekt verlief. Zumindest war er für die Traumsequenz in Alfred Hitchcocks SPELLBOUND aus dem Jahr 1945 verantwortlich.

Und aus Dalís Rolle in Alejandro Jodorowskys nie verwirklichter Verfilmung von DUNE wurde ja leider nichts. Ein Jahr später, 1930, schockten Buñuel und Dalí dann erneut das Pariser Kunstpublikum mit L’AGE D’OR, der es dann auf eine gute Stunde brachte, den aber Buñuel letztendlich vollendete, da sich die beiden aufgrund künstlerischer Differenzen vorzeitig trennten.

Provokant genug war L’AGE D’OR offenbar auch so noch, denn Buñuel und Dalí wurden nach der Erstaufführung beschuldigt, Kommunisten zu sein, und von der Presse wurde der Film als unmoralisch gebrandmarkt – vor allem wegen blasphemischer Tendenzen, die dazu führten, dass L’AGE D’OR bis Ende der Siebziger in der Versenkung verschwand.

Letztendlich bestand auch L’AGE D’OR wie UN CHIEN ANDALOU nur aus einer Abfolge seltsamer surrealistischer Bilder, die vor allem in den Köpfen der Filmemacher Sinn machten, aber das Publikum eher verwirrt zurück ließen, auch wenn recht klar war, wer mit dieser provokanten Schockästhetik angegriffen werden sollte – im Fall von Buñuel natürlich in erster Linie die katholische Kirche und die bürgerliche Gesellschaft.

Zwei Filme, die man sich natürlich nicht zur Unterhaltung anschaut, da sollte man sich von irgendwelchen selbstgefälligen Cineasten nichts vormachen lassen, für die L’AGE D’OR immer noch einer der provokantesten und kompromisslosesten Filme sein mag, die je gedreht wurden.

Allerdings ändern sich auch die Sehgewohnheiten, und so mag einen der durchschnittene Augapfel in UN CHIEN ANDALOU immer noch schocken, aber vieles andere, was damals als Tabubruch galt, amüsiert einen heute doch eher.

Wer die Film- und Kunstgeschichte für sich aufarbeiten will, der ist bei dieser gelungen umgesetzten DVD am richtigen Platze, alle anderen werden hier mit zwei sperrigen, unverständlichen Experimentalwerken konfrontiert, die man sich vor allem anschaut, um die persönliche intellektuelle Wissbegierde zu befriedigen.

Als Bonus gibt es hier noch die sehenswerte deutsch untertitelte Doku A PROPÓSITO DE BUÑUEL in Spielfilmlänge aus dem Jahr 2000, die zu erklären versucht, wie Buñuel seine surrealistische Bildsprache entwickelte, neben einem 12-seitigen Booklet mit Auszügen aus Buñuels Autobiographie „Mein letzter Seufzer“, in denen es natürlich um L’AGE D’OR und UN CHIEN ANDALOU geht.