Auf diesem Planeten sterben täglich unzählige Menschen unter tragischsten Bedingungen, ohne dass irgendjemand davon Notiz nimmt, und stattdessen macht ein Fall Schlagzeilen, bei dem ein Mann einen anderen auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin tötet und zum Teil verspeist, was statistisch gesehen doch eigentlich vernachlässigbar wäre.
Das geschah im März 2001 und seitdem sitzt der "Täter", der Computertechniker Armin Meiwes, im Gefängnis, verurteilt zu lebenslanger Haft - therapeutische Maßnahmen wurden ihm bisher aufgrund der angenommenen vollen Schuldfähigkeit verweigert.
Inzwischen entstanden mit dem gar nicht so üblen ROHTENBURG (mit Thomas Kretschmann) und dem äußerst unappetitlichen, primitiven CANNIBAL, der sich nur in den spektakulären Details der eigentlichen Tat suhlt, zwei fiktive Filme über Meiwes und sein Opfer Bernd Brandes, deren Veröffentlichung in Deutschland Meiwes wegen Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte bisher verhindern konnte.
Dafür gibt es jetzt ganz offiziell den Dokumentarfilm DER KANNIBALE VON ROTENBURG des Journalisten Günter Stampf, der Meiwes als Einziger im Hochsicherheitstrakt der Justizvollzugsanstalt in Kassel interviewen durfte, was er bereits in einem Buch verarbeitet hatte.
Der Film liefert einem die passenden Bilder dazu, doch wer allerdings aufgrund des DVD-Zusatzes "unzensiert" naiverweise annimmt, es gäbe hier Ausschnitte aus Meiwes Kannibalen-Homevideo zu sehen, wird mit eher trockener Kost konfrontiert.
Basis ist das Interview von Stampf mit Meiwes, hinzu kommt eine Hausführung durch den Anwalt von Meiwes, der einem den Gutshof zeigt, wo das alles geschah, neben Interviews mit Bekannten des Kannibalen sowie der SPIEGEL-Reporterin Gisela Friedrichsen und dem österreichischen Kriminalpsychologen Dr.
Thomas Müller, der ebenfalls Meiwes interviewen konnte. Da der Fall in der Presse extrem breitgetreten wurde, gibt es hier eigentlich nichts, was man nicht schon wüsste, wenn man mal ein wenig im Internet geforscht hat oder zufälligerweise die beiden Spielfilme zum Thema gesehen hat.
Der von einer Dame aus dem Telefonsex-Gewerbe (nur eine Vermutung meinerseits) gesprochene emotionslose Off-Kommentar kommt teilweise zu hanebüchenen Ergebnissen bezüglich der Deutung von Meiwes Verhalten - vor allem das böse Internet ist mal wieder an allem Schuld -, was sich doch sehr auf Bild-Zeitungs-Niveau bewegt, und auch der hartgesottene Kriminalpsychologe sorgt mit seinen oft albernen Fragen und Kommentaren im Gespräch mit Meiwes für erheiternde Momente in einem Film, der einem eigentlich das Grauen lehren sollte.
Aber wer nicht gerade ähnliche Bedürfnisse wie Meiwes verspürt - oder die eine Million vermuteter Kannibalen weltweit, also bei der nächsten Einladung zum Essen schön aufpassen -, wird auch nach diesem Film nicht wirklich nachvollziehen können, was letztendlich zu dieser extremen Tat geführt hat, dessen psychologischen Erklärungsversuche auch nicht das schwer ins Wanken geratene eigene Weltbild wieder gerade rücken.
Doch trotz seiner oftmals peinlichen Momente ist DER KANNIBALE VON ROTENBURG ein extrem sehenswerter Film, denn wo die meisten True Crime-Vertreter in der Regel nur olle Kamellen zum x-ten Mal wieder aufwärmen, ist dieser Fall noch richtig frisch und liefert durch die starke Präsenz von Meiwes anschauliche Einblicke in die Abgründe menschlicher Triebkräfte.
Die große Frage dabei ist, inwieweit Meiwes, der zwar etwas wirr, aber recht freundlich und gar nicht verrückt wirkend seine Beweggründe schildert, nur ein Meister der Selbstinszenierung ist oder tatsächlich mit offenen Karten spielt.
Denn vieles, was er sagt, klingt so, als ob er sich im Nachhinein zum armen Opfer hochstilisieren wolle, das er nun mal nicht war, auch wenn er sicher ein Getriebener der eigenen unstillbaren Bedürfnisse gewesen ist.
Ein gewisse Verstörung kann man nach Stampfs Film nur schwer leugnen, und irgendwie wünscht man sich den guten alten Hannibal Lecter zurück, denn Meiwes will so gar nicht dem Bild des Monsters entsprechen, das die Presse von ihm gezeichnet hat.
Auf der zweiten Disc befindet sich dann noch das komplette zweistündige Interview von Stampf mit Meiwes, noch mehr großartige Kommentare des Kriminalpsychologen und die komplette Hausführung - wirklich wunderbares Anschauungsmaterial für eine Diplomarbeit über sexuelle Perversionen.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #78 Juni/Juli 2008 und Thomas Kerpen