Lange Zeit war es ruhig um PROPAGANDHI. Seit dem letzten Longplayer "Less Talk, More Rock" sind beinahe fünf Jahre ins Land gezogen. Mit "Today´s Empires, Tomorrow´s Ashes" haben die Kanadier endlich ein neues Album am Start, das den hohen Erwartungen voll und ganz gerecht wird. Das Ox unterhielt sich mit Sänger und Gitarrist Chris, um den Umständen für die lange Pause auf den Grund zu gehen...
Als ich Chris gleich am Anfang unseres Gesprächs auf die Gründe für die lange Pause anspreche, hat dieser ein paar einleuchtende Argumente für die kleine Zwangspause parat: "Wir waren sehr stark mit dem Aufbau unserer eigenen Plattenfirma beschäftigt", womit er sein Label mit dem nicht gerade kurzen Namen "G7 Welcoming Committee Collective" meint. "Die Etablierung des Labels hat über zwei Jahre in Anspruch genommen", fährt er fort. "Erst im Jahr 1999 konnten wir uns wieder Gedanken um ein neues PROPAGANDHI-Album machen." Doch dann kamen ein paar kleine Unfälle dazwischen, die den Entstehungsprozess von "Today´s Empires, Tomorrow´s Ashes" immer wieder verzögerten: "Abgeschnittene Finger und gebrochene Beine", lacht Chris. Etwas genauer möchten wir es dann schon wissen. Was genau ist passiert? "Ich habe mir mit dieser verdammten Axt eine Fingerkuppe abgesäbelt", antwortet er, wobei man sein schmerzverzerrtes Gesicht am anderen Ende der Leitung förmlich spüren kann. "Und Jord, unser Drummer, hat sich beim Hockey ein Bein gebrochen, was den Aufnahmeprozess auch nicht gerade beschleunigt hat."
Doch damit nicht genug, denn auch eine Veränderung im Line-up kostete Zeit: "Wir haben den Bassisten ausgewechselt", erklärt er. "Zu diesem Zeitpunkt schmiedeten Jord und ich bereits unsere G7 Welcoming Committee Collective-Pläne." Kein Wunder, dass da nicht mehr viel Platz und Zeit für PROPAGANDHI war. "Wir waren uns aber immer darüber einig, dass die Band weiterhin bestehen würde, auch wenn wir die Prioritäten erst mal auf andere Dinge legten", erläutert Chris die damalige Situation. Und was hat er zu John K. Sampson (heute mit den WEAKERTHANS sehr erfolgreich, siehe Interview in Ox #41) zu sagen, der PROPAGANDHI 1996 verließ? "Wir haben auf G7 die beiden Alben der WEAKERTHANS veröffentlicht", lautet die Antwort. Und wie findet er persönlich die neue Scheibe der WEAKERTHANS? "Es ist nicht gerade mein Geschmack", gibt er ganz offen zu, "aber ich respektiere jede Musik, die ehrlich ist und aus dem Herzen kommt." Na gut, dann kommen wir mal direkt auf das neue PROPAGANDHI-Album zu sprechen, das meiner Meinung nach etwas anders als "Less Talk, More Rock" klingt. Nicht mehr so melodisch wie früher, oder? "Ich würde es nicht unbedingt als weniger melodisch bezeichnen", verneint Chris meine Frage. "Ich würde eher sagen, dass die früheren Platten nicht so intensiv und energiegeladen wie die neue Scheibe klingen. Die alten Werke waren sicherlich nicht schlecht, aber heutzutage haben wir mit dem neuen Line-up mehr Zusammenhalt im Bandgefüge, weil wir in musikalischer und politischer Hinsicht mehr Übereinstimmungen haben. Leute mit verschiedenen Geschmäckern bringen zwar auch einige interessante musikalische Momente zusammen, aber in dem neuen Line-up steckt wesentlich mehr Energie, Leidenschaft und Kreativität. Wir haben den selben Musikgeschmack, weil wir alle mit dem politischen Punk und Hardcore in den Achtzigerjahren aufgewachsen sind."
Was mich natürlich zu der Frage verleitet, welche Bands der Achtziger den größten Einfluss auf PROPAGANDHI hatten. Die DEAD KENNEDYS liegen eigentlich auf der Hand, oder? "Natürlich, das kann ich gar nicht abstreiten", erwidert Chris. "Und bestimmt auch solche Bands wie D.O.A. oder DAYGLO ABORTIONS. Aber den größten Einfluss hatten auf mich persönlich eindeutig MDC! Diese Band war für mich DIE Gelegenheit, eine völlig andere Perspektive zu erlangen, wodurch sich mein Leben und meine Ansichten komplett veränderten. Bis zu meinem 15. Lebensjahr war ich nämlich ein kleiner, dummer Faschist, der Ronald Reagan toll fand und Nuklearwaffen unterstützte." Was Musik so alles bewegen kann. "Ja, die Musik hat mein Leben wirklich umgekrempelt."
Apropos Ronald Reagan: Ist es Zufall, dass der neue Longplayer ausgerechnet am 6. Februar , dem Geburtstag des ehemaligen Präsidenten veröffentlicht wurde? "Ja, das ist tatsächlich Zufall", schmunzelt Chris. "Ursprünglich wollten wir die Platte eigentlich schon am 7. November auf den Markt bringen. An diesem Tag waren nämlich die amerikanischen Präsidentschaftswahlen. Aber aus irgendwelchen Gründen gab es eine Verzögerung, so dass laut Fat Wreck der nächstmögliche Veröffentlichungstermin der 6. Februar war. Ich blickte auf den Kalender und bemerkte, dass es sich um seinen Geburtstag handelte, was mir natürlich auch ganz gut in den Kram passte." Für Ronald Reagan und seine Mannschaft hat er natürlich auch noch ein paar nette Worte parat: "Für mich waren das kriminelle Kriegstreiber, die mit ihren Interventionen im Ausland viel Schaden angerichtet haben." Und wenn wir schon gerade beim Thema Politik sind: Was hält er vom späten Wahlsieg von George Bush? "Das Wahlergebnis zeigt aus meiner entfernten Sicht aus Kanada einmal mehr die Farce des ganzen Systems. Der Großteil der Leute hat Gore gewählt, aber Bush wird Präsident, was an diesem seltsamen Wahlsystem liegt. Dieses System wurde bereits in der frühen amerikanischen Geschichte von der damaligen Elite angelegt. Das ist die eine Sache. Und zweitens hat diese Wahl gezeigt, dass die heutige Oberschicht Angst vor Leuten wie Ralph Nader hat, die in der Öffentlichkeit kritische Fragen stellen. Es ist ein wichtiger Schritt für die amerikanische Politik, dass durch Nader auch im Fernsehen vor Millionen von Zuschauern solche Fragen aufgeworfen werden."
Nahtlos geht Chris anschließend zu seinem Heimatland über, wo nur wenige Wochen später auch eine wichtige Wahl stattfand. "In Kanada wurde ein neuer Premierminister gewählt", führt er aus. "Bei uns sind die Liberalen an der Macht, die Anfang der neunziger Jahre zahlreiche Versprechungen gemacht haben. Sie haben gelogen. Keine Versprechung wurde in die Tat umgesetzt. Aber trotzdem wurde der Kerl vor ein paar Wochen mit einer großen Mehrheit wieder gewählt. Das muss man sich mal vorstellen!" In Deutschland kann man sich das sehr leicht vorstellen, wie die 16 Jahre Helmut Kohl eindeutig beweisen. Man erinnere sich bloß mal an die "blühenden Landschaften". "Ja, das ist in der Tat schockierend", tönt es nachdenklich aus dem Hörer. "Die Leute haben den Glauben an die Politik und die Wahlsysteme längst verloren. Aber eines Tages wird der Punkt kommen, an dem sich die Völker mehr Fragen stellen werden..."
Glaubt Chris, dass PROPAGANDHI mit ihren zeitkritischen Texten etwas verändern können? "Wenn ich die E-Mails lese, die wir so bekommen, dann denke ich schon, dass wir den Hörern zumindest ansatzweise neue Perspektiven und Ansätze vermitteln können", lautet die hoffnungsvolle Antwort. Und welchen Stellenwert räumt er den Texten bei PROPAGANDHI ein? Hält er sie am Ende vielleicht sogar für wichtiger als die Musik? "Das habe ich früher vielleicht mal gedacht", holt er aus. "Im jetzigen Line-up ist das jedenfalls definitiv nicht der Fall. Heute bin ich davon überzeugt, dass beide Dinge Hand in Hand gehen sollten. Was nützen dir die besten Texte, wenn die Musik nicht gut ist?" Wo er Recht hat, hat er Recht. Doch kommen wir mal auf das oben bereits erwähnte Label von Chris zu sprechen, das den Namen G7 Welcoming Committee Collective trägt. Welche Ziele verfolgen Jord und er mit dem Label? "G7 ist in erster Linie eine Plattenfirma, die progressiven Künstlern eine Plattform bieten soll. Wir möchten das Label allerdings nicht allein auf die Musik beschränken - wir haben auch noch andere Pläne damit. Der Grundgedanke dabei ist, dass wir anderen Künstlern das zurückgeben möchten, was Fat Wreck uns damals gegeben haben - ein Forum, eine Stimme, die gehört werden kann!" Sehr lobenswert. Besonders dann, wenn auf G7 so geniale Bands wie THE WEAKERTHANS oder ...BUT ALIVE ihre Platten veröffentlichen. "Wir lernen gerade, wie man richtig Promotion betreibt", kichert Chris.
Und wie steht es mit dem Verhältnis zu Fat Wreck aus, wo PROPAGANDHI seit der Veröffentlichung ihres ersten Albums ("How To Clean Everything") beheimatet sind? "Das Verhältnis ist ausgezeichnet", berichtet der Kanadier. "Die Leute dort sind gute Freunde von uns. Es ist sicherlich keine reine Geschäftsbeziehung, sondern eher ein freundschaftliches Verhältnis. Wir haben zwar bei manchen Dingen unterschiedliche Ansichten, aber das kommt in jeder Beziehung vor. Ich freue mich immer, wenn ich in San Francisco die Leute von Fat Wreck treffe." Dann haben die Jungs noch nie ernsthaft über einen Wechsel zu einem anderen Label nachgedacht? "Nein, nicht wirklich. Es gab zwar diverse Angebote, aber ich halte überhaupt nichts davon, Leuten den Rücken zu kehren, die einem so geholfen haben."
Da Chris selbst ein Betreiber einer Plattenfirma ist, muss er auch eine Meinung zu den Themen Internet und MP3 haben, das besonders die großen Plattenfirmen in Angst und Schrecken versetzen. Was hält er persönlich von kostenlosen Downloads aus dem Internet? "Ich denke, dass die ganze MP3-Geschichte weder eine gute noch schlecht Sache ist, sondern eine neutrale. Die Menschen benutzen diese Technologie einfach. Napster an sich ist keine besonders progressive oder revolutionäre Firma, weil sie kapitalistische Züge in sich trägt. Aber generell bin ich der Meinung, dass Musik für jedermann greifbar sein sollte, also auch für Leute, die wenig Geld haben. Das ist der positive Aspekt dabei. Auf der anderen Seite vergessen die Leute durch die kostenlosen Downloads sehr schnell, wie viel Herzblut, Arbeit und Geld hinter der Produktion von Musik eigentlich steckt, und das weiss ich als Musiker und Label-Macher besonders gut. Die Fans romantisieren die Existenz und Arbeit eines Musikers manchmal ganz gerne." Dass Musiker und Plattenbosse nur saufen, Groupies abschleppen und lustig durch die Weltgeschichte düsen? "Ja, so ähnlich. Dabei steckt viel harte Arbeit dahinter, die die Leute in dieser Form nicht erwarten." Zum Beispiel? "Alle möglichen Tätigkeiten, die sich nicht großartig von normalen Jobs unterscheiden, also zum Beispiel Toiletten putzen, Essen für andere Künstler kochen, Gitarrensaiten aufziehen, Kisten schleppen und Webseiten gestalten. Gleichzeitig muss ich jedoch hinzufügen, dass keine Band der Welt Millionen verdienen sollte. Ich glaube nicht, dass METALLICA so viel Geld einsacken sollten, weil dann die Relationen einfach nicht mehr stimmen."
Im Booklet der neuen Scheibe sind unter dem Motto "Knowledge is power, arm yourself" auch einige interessante Webseiten angegeben, die in politischer Hinsicht alternative Informationsquellen darstellen sollen. Glaubt Chris, dass es genügend gute Informationsseiten im Internet gibt? "Ich denke schon", reflektiert er. "Niemand kann das Internet komplett durchforsten. Natürlich gibt es viele miese Seiten, aber es gibt auch eine ganze Menge positive Ausnahmen. Im Booklet findet man einige aus unserer Sicht wertvolle Seiten, die kritischen Journalismus zu bieten haben. Die Leute können sich dort ihre eigene Meinung bilden. Wir wollten damit aufzeigen, dass es auch noch ausserhalb von CNN eine Berichterstattung gibt." Doch damit nicht genug, denn auf der neuen CD befinden sich auch noch ein paar Multimedia-Tracks, die sich mit zwei bemerkenswerten Persönlichkeiten beschäftigen: William Blum und Ward Churchill. Chris kommentiert diese beiden Männer in paar Sätzen: "Blum hat früher für das US-State Department gearbeitet. Aber eines Tages konnte er die amerikanische Außenpolitik nicht mehr mit seinem Gewissen vereinbaren. Er schmiss seinen Job hin, um nach intensiven Recherchen ein Buch namens "Killing Hope" zu verfassen, das sich mit den Verbrechen der Außenpolitik seit 1945 beschäftigt." Nicht minder interessant ist auch der Werdegang von Ward Churchill, der zu den Mitbegründern der amerikanischen Indianerbewegung zählt: "Dieser Professor beschäftigt sich in seinen Schriften mit der amerikanischen Innenpolitik, speziell mit der Unterdrückung der "Black Panther"-Partei." Bei "Today´s Empires, Tomorrow´s Ashes" ist also nicht nur für musikalisches Vergnügen gesorgt, sondern auch für intellektuellen Anspruch, wobei das schön gestaltete Booklet zum Lesen der Texte förmlich einlädt.
Zum Schluss sei noch die Frage nach seinen persönlichen Lieblingsplatten der letzten Monate gestattet. "Die folgende Aussage mag vielleicht nicht besonders populär sein, aber ich finde das neue RAGE AGAINST THE MACHINE-Album ausgesprochen gut", outet sich Chris. "Du weisst schon, das mit den ganzen Coverversionen drauf. Ich bin echt traurig, dass der Sänger vor kurzem die Band verlassen hat. Die hätten gemeinsam echt noch viel erreichen können. Ansonsten höre ich aber eigentlich kaum moderne Musik, sondern Punkrock und Speed-Metal aus den Achtzigern." Womit wir wieder bei den DEAD KENNEDYS wären: Was sagt er zur Demontage von Jello Biafra, der von seinen ehemaligen Bandkollegen anscheinend konsequent fertig gemacht wird? "Genau kann ich die Situation natürlich nicht beurteilen, aber mittlerweile gibt es ja sogar schon Gerüchte, dass Alternative Tentacles deswegen bald dicht machen muss, weil Biafra wegen der ständigen Streitereien vor Gericht kein Geld mehr hat. Es sieht wirklich so aus, als würden die ihn gnadenlos zerstören, was echt tragisch wäre." Da kann man nur hoffen, dass dem guten Chris ein ähnliches Schicksal erspart bleibt. Denn PROPAGANDHI sind heutzutage eine sehr wichtige Institution, die fast schon einen ähnlichen Status wie einst die DEAD KENNEDYS genießt. Freuen wir uns auf die Deutschland-Tournee der drei aufgeweckten Kanadier...
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