Nach längerer Durststrecke sind die LOST LYRICS aus Nordhessen in neuer Besetzung zurück auf der Bildfläche erschienen. Mit neuem Album und neuer Besetzung startet die Band wieder durch. Ausreichend Blut konnte die Band um Sänger und Gitarrist Holger Schacht inzwischen auch schon bei diversen Konzerten lecken. Da mich die LOST LYRICS seit über zehn Jahren begleiten und mir ihre Musik vom ersten Demotape an immer gut gefiel, war es also dringend nötig, der Band anlässlich des Neubeginns mal kräftig auf den Zahn zu fühlen.
Die LOST LYRICS sind nicht mehr dieselben wie früher. Neben einigen Besetzungswechseln hat sich doch auch in eurem Leben einiges verändert. Bringt unsere Leser doch mal auf den aktuellen Stand.
Holger: Du hast Recht, es war in der Tat recht turbulent in den letzten Jahren, sowohl privat als auch mit der Band. Was LOST LYRICS angeht, war ja 2002 Basti, mit dem ich die Band gegründet hatte, von Bord gegangen, und wir mussten längere Zeit suchen. Dann haben wir zum Glück Steffen als neuen Drummer gefunden, und dann musste Matze in den Süden ziehen. Also suchten nun Steffen und ich einen Bassisten. Lars von den BRADLEYS ging dann direkt nach den ersten Bandfotos nach Berlin und nun haben wir Kati, auch von den BRADLEYS, am Bass. Und mit der neuen Besetzung ist irgendwie eine Frischzellenkur eingekehrt, und alles hat an Fahrt und Druck gewonnen - alles wird gut. Privat musste ich mich in meinen Beruf als Lehrer - unterm Strich wirklich ein Traumjob für mich - einarbeiten, und ich bin unter der Haube. Ich bin sehr glücklich. Mein Gemütszustand ist wie er besser nicht sein könnte, es geht mir so wie in "Alle Ampeln stehen auf Grün".
Jetzt gibt es mit dem neuen Team auch endlich ein neues Album. Bitte mal ein paar Worte zu "Ansage". Was ist neu im Vergleich zu früher? Was ist geblieben? Was erwartet ihr von der Veröffentlichung?
Holger: Vom Songwriting her ist es sicher typisch LOST LYRICS, geblieben ist natürlich auch der grundsätzliche Stil, melodischer Punkrock mit deutschen Texten. Spielerisch ist es bestimmt durch Steffen dynamischer, flotter und kraftvoller geworden, und Kati macht am Bass mehr als Matze. Textlich ist es wohl auch etwas kämpferischer, aggressiver und sarkastischer geworden. Die Mischung aus Härte und Melodie wollen wir auf jeden Fall beibehalten, und auch eine Ballade soll ihren Platz bekommen. Es soll abwechslungsreich sein. LOST LYRICS haben noch nie Musik nur für harte, eingefleischte Punks gemacht. Jedenfalls ist das die erste CD, für die uns Micha Will vom Plastic Bomb lobt, es muss sich also was verändert haben ... Oder er wird alt. Das, was ich erwartet hatte, nämlich einen neuen Schub für die Band, das ist schon passiert. Denn das Ganze war ja ein richtiger Break, die größte Zäsur seit 1994/95 - wo auch noch Sprache und Label neu waren -, und wie das Team wichtig für die Platte ist, so ist die Platte auch wichtig für unsere neue Gemeinschaft. Die Band hat endlich wieder ein stabiles Gesicht, und es macht riesig Spaß.
Steffen: Mit "Punkrock Utopia" hat auch endlich mal wieder ein neuer englischer LOST LYRICS-Song seinen Platz auf dem Album gefunden. Das hat schon gedauert, bis Holger sich dazu entschließen konnte, da waren schon einige Überredungskünste nötig. Ich mag die ersten beiden englischsprachigen Alben der Band sehr und wollte auf "Ansage!" ein bisschen davon wieder hören. Es ist, denke ich, auch neu, im Gegensatz zu früher, dass wir nun gemeinsam an Ideen arbeiten und erst abschließen, wenn es allen gefällt. Für mich ist es die erste Veröffentlichung, seit ich hier trommle, und ich erhoffe mir regelmäßige Gigs und gute Reviews fürs Album. Aber wer will das nicht ...?
Auch wenn es inzwischen für euch ein alter Hut ist, wie kamen die LOST LYRICS seinerzeit dazu, als bisher englischsprachige Band komplett auf Deutsch umzustellen? Was hast du daraufhin für Erfahrungen gemacht, wie eine Band wahrgenommen wird?
Holger: Die Gründe lagen zum einen bei den sehr positiven Reaktionen auf Lieder wie "Trauerspiele" - der Versuch war geglückt, und wir wollten das ausbauen. Zum anderen war das ja seinerzeit der größte Umbruch in der Bandgeschichte, vom Quartett zurück zum Trio, von Nasty Vinyl zu Hulk, und Torsten, der neue Basser, großer Freund deutscher Texte, meinte: Warum nicht gleich alles in Deutsch, wenn eh schon alles neu ist? Fratz fand das auch, und der Plan war eh schon da. Und es war wirklich erstaunlich, denn fast der komplette Hörerkreis erneuerte sich damit auch. Auf englische Texte hört fast niemand, das ist die bittere Wahrheit, und gute englische Texte werden auch kaum gewürdigt. Es klingt halt cool, und ist auch ästhetisch, ich mag die englische Sprache sehr, sie ist Teil meines Berufs. Als wir dann über dieselben Dinge wie vorher sangen, nur da eben auf Deutsch, war das einigen Leuten nicht mehr punkig genug. Aber in der Muttersprache sind die Texte nicht mehr zweitrangig, sie werden beachtet, sind für manche Stücke manchmal sogar wichtiger als die Musik, und vor allem kriegt man eine Zuhörerschaft, die ihre Zuneigung zur Band über deren Aussagen definiert. Das hast du bei fremdsprachigen Gruppen viel seltener. Deutsche Texte machen eine Band kontroverser, weil eben mehr drauf geachtet wird, und sie erzeugen auch ein treueres Publikum. Das ist jedenfalls meine Erfahrung. Hinter deutschen Texten kann man sich nicht verstecken. Dumme Plattitüden, Banalitäten, Reimschwächen und all so was fallen sofort auf, gute Sachen wie Ironie aber auch, man muss sich mehr anstrengen. Und die Wahrnehmung ist daher kritischer. Aber ich muss mit zehn Jahren Abstand sagen, dass der Schritt genau der richtige war. Er hat uns die Zuhörer gebracht, die wir haben möchten und uns gleichzeitig vom klassischen Deutschpunk abgegrenzt. Der internationale Markt ist zweitrangig, da sollte man eh nicht drauf spekulieren. Ich sehe oft Bands aus Großbritannien oder den USA, die hier touren, weil sie daheim nix reißen, muss ja ein toller Markt sein. Man kann ja auch auf Deutsch Nummer Eins in den Staaten sein. Aber sehen wir aus wie Nena?
Was muss ein Thema denn aufweisen, um von euch für einen Text herhalten zu können. Die typischen "Punk-Themen" scheinen euch da ja nicht auszureichen.
Holger: Nein, wir sprechen ja nicht nur Punks mit deren typischen Themen an. Ist aber eine gute Frage; ich denke mal, ein Thema muss für einen selber interessant sein und man muss es dem Thema zutrauen, dass es auch andere Leute interessiert. Manche Lieder erzählen Geschichten, zum Beispiel "Susie" oder "Du magst meine Freunde nicht". Da erleben fiktive Personen etwas, in dem sich vielleicht der eine oder andere Zuhörer wieder findet. Andere Lieder rufen zu etwas auf, appellieren wie etwa bei "Ansage" an ein bestimmtes Verhalten, in diesem Fall Zivilcourage. Und natürlich ist es die gute alte Sozialkritik, die öfters vorkommt, also Kommentare zu der Zeit, in der wir leben. Dabei finde ich besonders die Tendenz zum beschleunigten Turbo-Kapitalismus erwähnenswert, der Dinge wie Solidarität oder Verantwortlichkeit auflöst, mit allen gesellschaftlichen Begleiterscheinungen, die dann die gerade aufwachsende Generation auszubaden hat, siehe "Blühende Landschaften". Die moderne Medienlandschaft ruft in mir auch nur Brechreiz hervor, ist fast nur noch Entertainment und Verblödung. Ach ja, und zwischenmenschliche Dinge wie Freundschaft sind auch immer wieder ein schönes Lied wert, finde ich.
Musikalisch greifen die LOST LYRICS auch nicht nur auf altbekannte Punkbands zurück, sondern lassen immer mal wieder genrefremde Einflüsse mit rein. Ist so etwas mit dem Alter unausweichlich oder bewusst so eingesetzt?
Holger: Haha, ja, man wird weltoffener und toleranter mit den Jahren, ganz furchtbar! Wenn man heute mit einer Hippieband spielt, unterhält man sich sogar mit denen oder ignoriert sie wohlwollend, im schlimmsten Fall - früher hätte man ihnen einfach Bier in den Amp gekippt und die Kabel geklaut. Ganz schlimm. Aber im Ernst: Du kennst ja noch unsere englischsprachigen Sachen von damals, da hatten wir auch schon versucht, Folkelemente mit rein zu packen. Ska oder Reggae haben wir gelegentlich auch schon ausprobiert, alles ganz bewusst, jawohl. Wie gesagt, es soll abwechslungsreich sein und nicht nur Punks ansprechen. Mit extremen Ausflügen in andere Genres, wie es die ÄRZTE perfekt beherrschen, sind wir dabei vorsichtig, das kann auch mal ins Auge gehen. Man muss darauf achten, dass so eine Platte trotz allem wie aus einem Guss klingt. Und die Einflüsse müssen zur Band passen.
Kati: Mir ist es fast egal, welche Richtung wir spielen, solange es sich für mich überzeugend anhört und nicht wie gewollt und nicht gekonnt. Ich glaube, so wie es bei uns läuft, ist es ganz gut. Holger bringt die Riffs mit und dann mal gucken was passiert.
Interessiert ihr euch eigentlich dafür, was so außerhalb der LOST LYRICS noch passiert? Lest ihr Fanzines? Kauft ihr euch Platten von aktuellen, deutschen Bands?
Holger: Fanzines fallen mir eher mal zufällig in die Hände, Ox, Plastic Bomb und so, das tu ich aber nicht so regelmäßig wie Steffen, der zum Beispiel in eurer Sünderkartei drin ist. Ich habe aber schon einen Überblick, was so läuft. Außerdem haben wir ja auch Kontakt zu anderen Bands, durch gemeinsame Gigs oder von früher. Und ja, klar besorge ich mir Mucke von deutschen Bands, die es noch gibt: NONSTOP STEREO (ex-BASH), TERRORGRUPPE (was ist los mit Archie?), CHEFDENKER (die Lieder ohne dieses Metal-Gedudel), USE TO ABUSE (Harry rules), VULTURE CULTURE (alte Bekannte), NEVERMIND (neue Bekannte), PROJEKT KOTELETT (ex-BALLERMANN 77, schweres Erbe treten die an), RASTA KNAST, BRADLEYS (Katis Saufkumpane), die DONOTS und die BEATSTEAKS mag ich auch. Wenn ich ganz ehrlich bin, gibt es meine deutschen Lieblingsbands aber fast alle schon nicht mehr. Ach ja, seit der Liaison mit Funny van Dannen haben auch die TOTEN HOSEN wieder zugelegt.
Was wird das Jahr 2006 für die LOST LYRICS bringen? Wird die Bürgermeisterschaft in Kassel in Angriff genommen? Soll der Rest der Republik erfolgreich erobert werden? Wird es einen Nachschlag zum neuen Album geben?
Holger: Ich bin ja schon Deutschland, wie du auch, das reicht mir an Politik; und ich komme ja nicht aus Kassel, aber vielleicht hat Kati als Frau für den Posten da Chancen, Frauen liegen politikmäßig voll im Trend. Kati ist unsere "eiserne Lady" und sollte die Kommune überspringen und gleich in die Bundespolitik einfallen. Sie kann auch hart verhandeln. Dafür hätte sie Zeit, da wir für 2006 kein Album planen, nein, aber schon neue Lieder. Unsere Homepage werden wir gewissenhafter aktualisieren, und vielleicht kriegen wir eine ganz neue! Wir wollen rumfahren und die "Ansage" den Leuten live präsentieren, da dürfte der Schwerpunkt liegen. Als alter WHO-Fan hatte ich mal davon geträumt, so eine Art Konzeptalbum oder Punkrock-Oper zu machen. Allerdings haben GREEN DAY mit ihrem "American Idiot"-Meisterwerk, das einfach nur verdammt genial ist und völlig zu Recht alle Preise kassiert hat, die Messlatte so hoch geschoben.
Vielen Dank für das Gespräch.
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