Punk im Graffiti

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Die Kunst des urbanen Widerstandes

Bei dem Wort Graffiti denken viele direkt an die typischen Hip-Hop-Gestalten mit breiten Hosen und riesigen Kapuzen. Doch die Geschichte des Graffiti begann weit vor der Geburt des Hip-Hop-Phänomens. Mittlerweile sind die ersten Pioniere über 50 Jahre alt und viele sind heute noch aktiv und sprühen Bilder. Seit mehr als zehn Jahren entwickelt sich diese Kultur in viele neue Richtungen und bricht die traditionellen Formen des Hip-Hop-Graffiti auf. Lange Zeit war Graffiti stark mit diesen Formen behaftet, und die neuen Stile haben sich mittlerweile enorm entwickelt und eine unglaubliche Kreativität entfaltet. Dieser moderne Trend lässt sich nicht länger nur als traditionelles Graffiti bezeichnen – und sehr oft distanzieren sich Sprüher auch von diesem Begriff und benutzen stattdessen „Street Art“, „Post Graffiti“ oder „Aerosol Art“ ...

ls ca. 1969 die ersten Sprüher in New York und Philadelphia Züge mit ihren Namen und Pseudonymen beschrieben, hörten sie die alten 60er Bands wie PINK FLOYD oder LED ZEPPELIN. Zu dieser Zeit entstanden die ersten „Tags“ (Unterschriften der Sprüher), die sich im Laufe der Jahre zu großen „Pieces“ (von „masterpiece“) entwickelten. Den Sprühern von damals waren die Buchstaben ihrer Namen wichtig, die sie so gut wie möglich gestalteten, um aus der mittlerweile entstandenen Masse neuer Tags hervor zu stechen.
Mitte der 70er kam dann der Hip-Hop auf und benutzte Gaffiti direkt als einen Teil der eigenen Kultur, die sich aus B-Boys, MCs und Writern (den Sprühern) zusammensetzte. Hip-Hop prägte Graffiti auch stilistisch und wurde dominiert von typischen Buchstaben, die für Nicht-Graffiti-Interessierte oft kaum zu lesen sind. Figuren wurden wenig benutzt und waren meist aus den Comics von Bodé abgemalt, oder sie sahen aus wie die für Hip-Hop typischen B-Boys, spielten aber eher eine Nebenrolle zu den Buchstaben. Graffiti in New York bedeutete schon immer den Kampf der Slums von Bronx oder Brooklyn gegen die glitzernden Viertel des Broadways. Die ersten Ausstellungen von Sprühern lösten großes Aufsehen aus, welches Künstler wie Keith Haring und Jean Michel Basquiat nutzten, um sich selbst bekannt zu machen.
Bei einem Besuch in Südafrika stellte ich auch fest, dass die dortigen ersten Sprüher aus den riesigen „Capeflats“ kamen, heftige Ghettos am Rande von Kapstadt, in denen Familien in winzigen Blechhütten ohne Strom, Wasser oder sanitäre Anlagen leben. Durch Graffiti finden viele die Motivation, diese kapitalistischen Barrieren zu durchbrechen.

Zwischen 1982 und 1984 schwappte diese neue Musik nach Europa herüber und löste die allen bekannte Hip-Hop-Welle aus. Damit kam auch das „American Graffiti“ nach Europa und verdrängte die bestehenden Künstler, die bislang mit ihren Bildern die Straßen der Großstädte dominierten. Natürlich gab es auch weiterhin unzählige Sprüher, die keinen Hip-Hop sondern Punk oder Heavy Metal hörten, dennoch aber die typischen Buchstaben sprühten.
Die Amsterdamer Graffiti-Kultur entstand um 1978 herum. Vor der Invasion des Punkrock mit Bands wie den SEX PISTOLS, THE CLASH oder THE STRANGLERS gab es in der Stadt viele Punks, die Slogans an die Wand malten und mit einem Pseudonym unterschrieben. Größtenteils kamen diese Sprüher aus der Hausbesetzer-Szene. Einer der bekanntesten Aktivisten aus dieser Zeit ist wahrscheinlich Hugo Kaagmann, der während der holländischen Wirtschaftskrise in einem besetzten Haus lebte und das bekannte „De Koecrant“-Magazin herausgebracht hat. Inspiriert von der englischen Punk-Kultur und ihrer D.I.Y.-Philosophie begann er mit Graffiti, um die eigenen Ideen und die eigene Kultur zu präsentieren. Hugo war auch einer der ersten, der die Schablone als ein neues Werkzeug einsetzte, um sehr komplexe Bilder mit der Sprühdose an die Wand zu bringen. Mit dem einfallenden Hip-Hop um 1984 herum starb dieses „Punk-Graffiti“ aus, und wurde ersetzt mit den bekannten Stilen der B-Boys und ihrer Schriftzüge.

Paris ist die eigentliche Hochburg für die so genannte „Pochoir“- oder „Stencil“-Graffiti-Kultur. Anfang der 80er Jahre entstand ein wahrer Boom von Sprühern, die Schablonen für ihre Graffiti benutzten. Bei den „Pochoirs“ oder „Stencils“ handelt es sich um Bilder, die mit ausgeschnittenem starkem Karton oder Metall und mit der Sprühdose oder dem Pinsel auf die Wand gebracht werden. Der Vorteil eines Pochoirs ist, dass es schnell zu sprühen ist und sich beliebig oft vervielfältigen lässt. Der Begründer des Schablonen-Graffiti ist Blek Le Rat (http://bleklerat.free.fr), der Anfang der 80er lebensgroße Figuren schnitt und sie an strategischen Punkten in den Pariser Arrondissements sprühte, und einen großen Bekanntheitsgrad in der Pariser Bevölkerung erreichte, die seine schimpfenden alten Männer, russischen Soldaten und tanzende Paare mochten. Mit dem aufkommenden Hip-Hop wendete sich das Blatt wieder schnell und die Stadt wurde überflutet mit Tags. Einige der Pochoir-Sprüher arbeiteten gegen das Hip-Hop-Graffiti, Blek hörte auf zu sprühen, und klebt seitdem politische Poster, um einen Kontrast gegen das zum Teil eintönige Graffiti in den Straßen zu schaffen. Er ist heute einer der ältesten noch aktiven Sprüher und hat unzählige Nachahmer inspiriert.
Schablonen-Graffiti haben eine lange Beziehung zum Punk, viele politische Aktivisten und Punks benutzten Stencils, und sie passten auch ideal mit der D.I.Y.-Philosophie zusammen. Vor allem in den Subkulturen von Berlin oder Barcelona wurden oft Schablonen benutzt, die häufig von den Bildern der kommunistischen Führer inspiriert waren. Englische Sprüher waren früh von den Slogans und den graphischen Elementen des Punk inspiriert, wurden aber auch sehr schnell vom Hip-Hop-Graffiti überrollt. Die wohl bekanntesten frühen Schablonen-Graffiti finden sich auf den Platten von CRASS, die der Sprüher Nylon (www.mister-nylon.com) Anfang der 80er machte. Nylon ist heute noch aktiv und schneidet Schablonen aus oder sprüht seinen Namen in einer Straße, was für ihn ein wichtiger Teil des Graffitis ist. Seine Bilder sind oft an die Werbegrafik der 50er Jahre angelehnt.
Heute kommt in London oder Bristol niemand an den Bildern von Banksy (www.banksy.co.uk) vorbei, der mit seinen politischen und humoristischen Aktionen für Aufsehen sorgt. Banksy malte im Affenkäfig des Londoner Zoos einen Hilferuf, der aussah, als hätten ihn die Affen selbst geschrieben und flog nach San Cristóbal de los Casas in Chiapas, México, um dort im autonomen Land der Ziapas poetische Bilder für den Frieden zu sprühen. Manche werden ihn vielleicht durch die Cover der letzten zwei BLUR-Platten oder seinen unzähligen Ratten kennen, die er in der ganzen Welt gesprüht hat. Seine Heimatstadt Bristol ist bekannt für seine sehr vitale Punk- und linke Szene, die der ideale Nährboden für seine Bilder waren.
Moderne Sprüher sind nicht mehr vom Hip-Hop abhängig und haben ihre Wurzeln oft im Punk und der Philosophie der Kultur. Graffiti ist ein Transportmittel geworden, um die Bevölkerung mit Bildern in den Straßen ihrer Stadt zu inspirieren und zum Nachdenken anzuregen. In den engen Räumen von Galerien hat Graffiti keinen Platz, denn es gehört auf die Straße, wo es frei für jeden zugänglich ist und jeder eine Reaktion auf das Bild haben kann. Die Straße ist zu einem Spielplatz geworden, seine kreativen Ideen zu verwirklichen.
Die Künstler wollen einen grafischen Kontrast zu den langweiligen und riesigen Werbetafeln schaffen, die den Passanten überall auflauern und sie erschlagen. Sie wollen den Betrachter, der morgens in die Fabrik fährt, erfreuen. Zum Teil verändern sie die Werbeplakate oder benutzen ihren Namen für imaginäre Wahlkampagnen. Der deutsche Sprüher Hörnchen hat bewusst das Motiv eines Eichhörnchens gewählt, um damit, und mit Hand geschriebenen Parolen wie „Fashion Fuckers“, gegen Werbung und politische Poster und deren graphischen Müll aktiv zu werden.
In Paris ist die „Anti-Pub“-Bewegung entstanden, die sich gegen die kommerziellen und sexistischen Inhalte der Werbeplakate wehrt, und Poster verändert oder Sprüche auf sie schreibt. Vor kurzem wurden ca. 60 dieser Sprüher von der Pariser Métro-Gesellschaft angeklagt, was aber in einem Desaster für die Gesellschaft endete, und die Richter nur drei der sechzig Angeklagten wegen Sachbeschädigung verurteilten.
Die aus Madrid stammende Gruppe El Cartel (http://pagina.de/el_cartel) produzierte ihre ersten Poster, um damit rassistische Plakate zu überdecken. Heute drucken sie limitierte Poster Auflagen von 500 Stück, die sie in einem immer gleichen Design mit Themen zum Krieg, Rassismus, Immigration, physischen Missbrauch und Wohnungsnot gestalten.

Einige Graffiti-Künstler nutzen die grafischen Formen und Designs des Punk. Der New Yorker Bäst zum Beispiel schreibt seinen Namen nur in der Schrift des „Never Mind the Bollocks“-Albums der SEX PISTOLS. Die beiden französischen Künstler Poch und Honet/HNT (http//:hnteuropa.free.fr) verwenden für ihre Figuren nur Formen, die aus dem Ska und Punk kommen. Poch kam 1986 zum Punk und fand Gefallen an den Grafiken der Platten und Flyer. Später traf er auf das Pochoir und malte fortan Schwarz-Weiß-Bilder mit Punk-, Skinhead-, Reggae- und 80er-Rap-Elementen, die sich auch gut auf einem Ska-Cover machen würden.
Acamonchi (acamonchi.com), ein Mexikaner, wurde vom Layout der frühen Punkrock-Fanzines und der Skate- und Punk-Subkultur inspiriert, und startete mit dem Amerikaner „Obey the Giant“ (obeygiant.com) eine internationale Kampagne, die das Gesicht des russischen Wrestlers „Andre the Giant“ und das Wort „Obey“ („Gehorchen“) benutzt, und in jedem Winkel der Welt als Poster, Schablone, Aufkleber oder große Werbetafel zu finden ist. Heute ist Obey ein Solokünstler, und nicht selten sehen seine Poster aus wie ein SEX PISTOLS- oder Jimi Hendrix-Plakat. Er hörte 1984 Punkrock und begann zu skaten, doch ihm gefiel das Design des Boards nicht, also bemalte er es neu und fertigte seine erste Schablone an. Skateboarding spielte für moderne Sprüher auch eine wichtige Rolle, nicht wenige Skater waren fasziniert von den vielen gesprühten Bildern, die sie auf ihren Wegen durch die Straßen der Städte auf vier Rädern sahen. Viele fingen dadurch selbst an zu zeichnen und zu sprühen.
Auch der amerikanische Künstler Dalek (www.dalekart.com) kam durch Punk, Hardcore und Skating zu Graffiti und ist heute bekannt für seine „Space Monkeys“, die einer verrückten Acid-Welt entsprungen sind. Er lebt heute mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn in New York, sprüht so gut wie kaum noch, und malt seine Figuren mit Pinsel auf Papier, die er in Galerien ausstellt oder als Toys verkauft.

Graffiti oder Street Art ist eine Kunstform, die sich unabhängig von der etablierten Kunst entwickelt hat, und auch nicht in die Normen der kommerziellen Galerien zu zwängen ist. Sie existiert autonom, setzt sich ihre eigenen Maßstäbe und ist frei von stilistischen Grenzen. Bilder im öffentlichen Raum spielen in der Menschheit eine wichtige Rolle, heute präsentieren Sprüher persönliche Gefühle und Gedanken in Form von Bildern einer breiten Öffentlichkeit, ohne jemals eine direkte Reaktion erwarten zu können. Sie arbeiten anonym und sind nur durch ihre Pseudonyme identifizierbar. Wenn sie ihre Bilder malen, setzen sie sich oft ziemlichen Risiken aus, warten oft stundenlang im Gebüsch, bis die Luft rein ist und sie zuschlagen können.
Mit der weltweiten Verbreitung dieser Kultur sind die verschiedenen Sprüher zusammen gewachsen und die Gemeinschaft spielt eine wichtige Rolle. Nicht nur die einzelnen „Crews“ (Gruppen von Sprühern, die unter einem Namen fungieren) bilden eine oft freundschaftliche Verbindung, die zusammen spontan große improvisierte Wandcollagen sprühen. Dieser gemeinschaftliche Zusammenhalt ist wie bei den Punk- oder Skate-Kulturen weltweit verbreitet und vernetzt.
Sprüher durchbrechen bewusst die grafischen Normen, um die Städte mit ihren vielseitigen Kreationen zu bereichern, um kreative, politische oder individuelle Inhalte zu transportieren, um gegen den Müll der Werbung anzukämpfen, indem sie eine visuelle Alternative bieten und in der tristen, monotonen Architektur agieren. Auch neben dem starken Einfluss von Hip-Hop hat der Punk die Graffiti-Entwicklung stark beeinflusst, und hat für die modernen Trends eine große Bedeutung. Das Ziel des heutigen Graffiti ist eine künstlerische Aktion, die den öffentlichen Raum als Galerie nutzt, und mit ihren Wurzeln im D.I.Y. eine vollkommen offene Kultur geschaffen hat.

www.keinom.com